Was braucht es, um Kleidung inklusiver zu gestalten? Was wünschst du dir als rollstuhlfahrende Person? Wie kann die Zukunft von Mode aussehen?
Diese Fragen haben sich Mona-Lisa Sell (Physiotherapeutin mit Spezialisierung auf Querschnittlähmung und angehende Sozialökonomin), Lioba Benold (Modedesignerin (B.A.) mit Thesis zu inklusiver Kleidung), Nora Steidel (ethnografische Stadtforscherin mit Fokus auf Soziale Gerechtigkeit/Menschenrechte) und Anne Zerfass (Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache (DaF) mit Master in Allgemeine Sprachwissenschaften) gestellt und das Projekt 1.5 Chairwear 2021 ins Rollen gebracht.
KIEL.nachhaltig: 1.5 Chairwear ist ein inklusives Modelabel, das Mode für und mit Rollstuhlfahrenden entwickelt. Warum?
1.5. Chairwear: Weil Mode bisher auf den stehenden Körper angepasst und designt wird und das nun mal nicht jeder Lebensrealität entspricht. Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung werden in der Textilindustrie zu wenig erfragt, oft werden sie sogar übergangen. Kleidung schlägt Falten, hat falsche Längenverhältnisse und vernachlässigt die speziellen, unter anderem medizinischen Bedürfnisse der Zielgruppe. Das Marktangebot ist klein, Endkonsument:innen unzufrieden und die Modeindustrie handelt nicht inklusiv. Als interdisziplinäres Team treten wir mit den Menschen in Austausch, denen die Modeindustrie bisher kein Gehör geschenkt hat. Wir wollen feststellen, welche soziale Verantwortung Design hat, verstehen, wie Kleidung inklusiver gestaltet werden kann und den Themenkomplex Barrierefreiheit in einem soziopolitischen Diskurs gemeinsam betrachten. Anstatt den Menschen als defizitär zu betrachten, wollen wir Lösungen schaffen und einen Teil dazu beitragen, dass Rollstuhlfahrende von Außen weniger Behinderung erfahren. Durch die Wechselwirkung aus Forschung und inklusiven Designprozessen werden Textilien entstehen, die einen Einblick in die „inklusive Mode von morgen“ geben. Nun haben wir Workshops geplant, in welchen eine Mischung aus partizipativer Schnitt- /Material-/Werkstofferforschung stattfinden wird. Ziel ist es, gemeinsam neuartige Prototypen zu entwickeln, welche nicht an den Vorstellungen von Rollstuhlfahrenden vorbeizielen. Inklusion kann nur erfolgreich sein, wenn die Menschen, um die es geht, aktiv in Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse eingebunden werden.
Aber wie können Rollstuhlfahrende an dem Prozess teilnehmen?
Rollstuhlfahrende verkörpern die Fachexpert:innen unserer Forschung und stehen im Zentrum des gesamten Prozesses. Ihre Wünsche und Fragen zu „Was muss Mode können?“ werden in Interviews und Umfragen reflektiert. Dies bildet die Grundlage für eine Workshopreihe, in der sie selbstbestimmt den Dialog mit der Wissenschaft gestalten. Als partizipatives Element sehen wir die Barrierefreiheit – sowohl im forschenden als auch räumlich-operativen Sinne. Wir ermöglichen den Teilnehmenden einen niedrigschwelligen und barrierefreien Zugang zur Forschung, indem wir gezielt digitale und analoge Alltagsräume aufsuchen.
Und warum denn eigentlich 1.5 Chairwear?
Im Laufe des Gründungsprozesses wurden wir oft gefragt „Gibt es überhaupt so viele Rollstuhlfahrende, lohnt sich das?“ Spoiler: Es gibt rund 1,5 Millionen Rollstuhlfahrende in Deutschland, zehn Prozent der deutschen Bevölkerung hat eine Schwerbehinderung. Der Name „onepointfive“ „1.5 Chairwear“ soll Sichtbarkeit verschaffen und die bisher marginalisierte Gruppe ins Zentrum eines Austausches auf Augenhöhe rücken.
Ist es zeitgemäß, Kleidung zu produzieren?
Wir setzten uns natürlich auch mit der Frage auseinander, wie wir ökologisch nachhaltig designen und entwerfen können. Für die Entwicklung von Schnittmustern benutzen wir deshalb eine Software, die Kleidung an einem im Rollstuhl sitzenden Avatar simuliert. Dadurch sparen wir Produktionskosten und vermeiden übermäßige Materialverschwendung. So können ökologische, aber vor allem auch sozial nachhaltige Produkte entstehen. Wir befinden uns hier aber noch deutlich am Anfang eines Prozesses – bei Ideen und Anregungen gerne her damit: mona-lisa@rolez.de.
Fotos: 1.5 Chairwear